Gemeinwohlorientierung, Open Data, ethische Datennutzung, K4Good: Die Liste an Themen ist lang, die Zeit drängt. Über 900 KI-Pionier:innen, Expertinnen und Akteur:innen aus Vereinen, Verbänden und Stiftungen sowie Wissenschaft und Politik trafen sich beim #dss2024 am 30. Januar 2024 in Berlin und digital, um zu lernen und in der KI-Debatte sichtbarer zu werden.
Mit einem klaren Appell beginnt der Digital Social Summit 2024 in Berlin. “Wir müssen uns lauter, stärker, kritischer einbringen, auch in Krisenzeiten”, sagt Henriette Litta von der Open Knowledge Foundation Deutschland. Gemeinsam mit Katarina Peranić, Carla Hustedt und Carsten Große Starmann spricht sie auf dem Auftaktpanel zentrale Fragen und Herausforderungen an, die in den nächsten Stunden auf der Digitalkonferenz der Zivilgesellschaft diskutiert werden.
Obwohl Digitalisierung und KI große Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche haben, sind zivilgesellschaftliche Akteur:innen noch immer überraschend selten zu hören. Wie zahlreich und vielfältig diese Stimmen sind, kann man an diesem kalten Januartag in der Malzfabrik sehen. Bis auf den letzten Hocker ist die sonnengeflutete Maschinenhalle gefüllt. 260 Teilnehmer:innen, KI-Pionier:innen, Expert:innen und Interessierte aus Vereinen, Verbänden und Stiftungen, der Wissenschaft und Politik sind gekommen, um sich über Gemeinwohlorientierung, Daten und konkrete Anwendungen auszutauschen und zu lernen. Über 700 weitere Menschen nehmen digital teil. Der Digital Social Summit hat sich als Forum für die digitale Expertise innerhalb der Zivilgesellschaft und als Bühne für digital-soziale Innovationen etabliert. “Der Bedarf, Wissen auszutauschen, Neues zu lernen, ist groß”, freut sich Katarina Peranić von der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt über die Resonanz. “Die Risiken und Chancen von künstlicher Intelligenz in den Blick zu nehmen und darüber zu sprechen, finden wir selbstverständlich.”
Die Zivilgesellschaft als Gegengewicht in der Debatte
Nach dem Digitaliserungsschub durch die Pandemie ist KI auch für die Zivilgesellschaft ein großes Thema. Unter den Speaker:innen sind viele Akteur:innen, die sich seit Jahren mit dem Einfluss der digitalen Transformation auf die Demokratie und das Gemeinwohl befassen. “Es gibt große Chancen für die Demokratie”, sagt Carla Hustedt von der Stiftung Mercator. “Wir sehen aber auch, dass digitale Technologien dazu führen können, dass Ungleichheit verstärkt wird. Die Macht der Big Tech Industrie, wirtschaftlich, sowie auf dem politischen Parkett, ist enorm. Wir müssen als Zivilgesellschaft besser zusammenarbeiten, um als Gegengewicht wirksam sein zu können.” Über die Expertise der Zivilgesellschaft und die vielen “Menschen, die tagtäglich im Dienste des Gemeinwohls arbeiten und sich nun mit KI auseinandersetzen”, freut sich Teresa Staiger von der Bertelsmann Stiftung. “Es ist so wichtig, dass wir heute zusammenkommen, um darüber zu diskutieren, wie wir uns als Gesellschaft unsere Zukunft mit KI vorstellen können.”
Der #dss2024 als Experimentierraum
Auf der Hauptbühne stehen am Vormittag Sabrina Konzok von den Jungen Tüftlern und Dr. Julia Freudenberg von der Hacker School und reden leidenschaftlich über den Komplex Schule und Digitalisierung. Digitalisierung erfordert Mut, auch mal etwas nicht zu wissen und es gemeinsam herauszufinden, sagen sie.
Was für die Schulen gilt, gilt auch auf dem Digital Social Summit. Im Studio, einem langen, lichten Raum, haben sich am Vormittag über 30 Teilnehmer:innen für eine Prompt-Werkstatt versammelt. Stefan Göllner vom KI Campus im Stifterverband will gemeinsam mit den Teilnehmer:innen erforschen, ob ein KI-Chatbot zwischen fremden Perspektiven vermitteln und Empathie wecken kann? In kürzester Zeit kreieren die Teilnehmer:innen in drei Gruppen mit ChatGPT ein Gespräch zwischen der Leitung einer Pflegeeinrichtung, einer Pflegekraft und einer Bewohnerin zum Einsatz eines Pflegerobotors. Es wird gemurmelt, gestaunt, gelacht. Nach 45 Minuten steht nicht nur ein in Teilen humoristisches Ergebnis, der Workshop hat bei vielen Neugier geweckt, aber auch Reflektionslust, wie die lebendige Diskussion im Nachgang beweist.
KI fürs Gemeinwohl
Der Begriff des Gemeinwohls steht etwas später in der Session von Teresa Staiger und Felix Sieker von der Bertelsmann Stiftung im Zentrum. Beide arbeiten im Projekt reframe[Tech], mit dem sich die Stiftung dafür einsetzt, dass die Entwicklung und der Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz stärker am Gemeinwohl ausgerichtet werden. Nicht was technisch möglich, sondern gesellschaftlich sinnvoll ist, soll die Prämisse bei der Entwicklung von KI-Anwendungen sein. Um herauszufinden, wie KI die Arbeit von Wohlfahrtsverbänden unterstützen kann, hat das reframe[Tech]-Team 2023 (mit der Unterstützung der Robert Bosch Stiftung) acht Explorierer:innen losgeschickt, die Pain Points ermittelt und vier KI-basierte Ideen entwickelt haben. Das Spektrum ist weit. Neben einem simplen Tool, das in der Jugendhilfe die Betreuer:innen entlastet, indem es die Buchhaltung erleichtert und die Digitalkompetenz der Jugendlichen stärkt, wurde auch eine komplexere KI-Anwendungsidee zur Therapieunterstützung in der Suchthilfe entwickelt. Damit mehr gemeinwohlorientierte und somit nicht-profitgetriebene KI-Projekte entstehen, braucht es mehr finanzielle und personelle Ressourcen, so das Fazit der beiden Referent:innen. Damit docken sie an einen zweiten Appell vom Morgen an. Einen Appell an die Politik, sich zur Zivilgesellschaft zu bekennen, sie in den Debatten um KI nicht zu vergessen und das Wissen und den Ideenreichtum stärker zu fördern.
Klassentreffen der Vorantreiber:innen
Während am Mittag vereinzelt Teilnehmer:innen am Teich hinter der Malzfabrik in der Sonne sitzen und arbeiten oder frische Luft schnappen, wird die Mittagspause von den meisten genutzt, um sich auszutauschen. Die Freude an der Begegnung ist zu spüren. Nach drei digitalen Ausgaben ist der 5. Digital Social Summit der erste, der wieder analog stattfindet. Manche Teilnehmer:innen erinnert die Atmosphäre auf dem #dss2024 an ein Klassentreffen. Es scheint, dass auch in den Jahren der digitalen Events eine Community von Vorantreiber:innen um den Digital Social Summit gewachsen ist und sich gut vernetzt hat.
Mit KI gegen KI: Von KI4Good und Deep Fakes
Viele Session auf der Konferenz geben einen Einblick in die Möglichkeiten, die KI für den Umweltschutz, die Bildung und Pflege eröffnet oder zeigen, wie alltägliche Aufgaben automatisiert werden können. Es geht um die verbesserte Bewässerung von Stadtbäumen durch KI, um die Dokumentation in der Pflege durch Spracheingabe, um KI, die die Social-Media-Arbeit oder auch das Stellen von Förderanträgen erleichtert. Um Aspekte wie Diskriminierung, Bias und Gefahren für die Demokratie kommt auch der #dss2024 nicht herum. Neben der Session „Computer says No“. Was tun, wenn Algorithmen diskriminieren?, zeigt die Werkstatt “Ist das echt/wahr? – Fake News in Zeiten von KI” vom Verein codetekt sehr anschaulich, wie Künstliche Intelligenz genutzt werden kann, um Desinformationen zu erstellen. Christina Quast hat den Teilnehmer:innen, die in einem kleinen Raum unterm Dach an einem langen Tisch sitzen, viele Beispiele mitgebracht. Ein gefaktes Foto vom Parteitag der Grünen oder eine Aktion vom Zentrum für Politische Schönheit machen deutlich, wie schwer es geworden ist, KI generierte Bilder, aber auch die Grenze zwischen Satire, Aktionskunst und Deep Fake zu erkennen. Die Botschaft der Werkstatt: Wir können nicht mehr jedem Foto oder Video glauben. Wir alle müssen viel genauer hinsehen und prüfen, wie glaubwürdig eine Nachricht, wie vertrauenswürdig eine Quelle ist. Wir müssen Grundlagen im Faktenchecken erlernen, Tools wie den Fact Check Explorer kennen und wir brauchen einen kritischen, starken Journalismus, seine Gatekeeper-Funktion ist wichtiger denn je.
Dass Künstliche Intelligenz wiederum auch genutzt werden kann, um toxische und unglaubwürdige Beiträge auf die Spur zu kommen, demonstriert die anschließende Session von Liquid Democracy. In zwei Projekte hat die Organisation die Nutzung von KI in Beteiligungsverfahren erprobt und stellt heute die ersten Ergebnisse vor.
Ohne Daten keine KI
Die Bedeutung von Daten ist ein weiterer großer Schwerpunkt der Konferenz. Wie Daten von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft ethisch und effizient eingesetzt werden können, diskutieren unter anderem Vetreter:innen der großen Wohlfahrtsverbände am Beispiel von Gesundheitsdaten. Auch das Civic Data Lab, eine Initiative von CorrelAid, der Gesellschaft für Informatik und dem Deutschen Caritasverband, stellt am späten Nachmittag seine Arbeit vor. Zivilgesellschaftlichen Organisationen soll es in Zukunft besser gelingen, Ordnung in ihre Daten zu bringen und sie besser zu nutzen. Noch bis mindestens Frühjahr 2025 unterstützt das Civic Data Lab bei der Konzeption und Umsetzung von Datenvorhaben. Der Workshop, in dem die Teilnehmer:innen exemplarisch ein Datenprojekt grob skizzieren, macht das abstrakte Thema Daten gleich viel greifbarer. So können geordnete und gut aufbereitete Daten beispielsweise helfen, Projekte genauer zu monitoren und faktenbasierte Entscheidungen zu treffen.
Ein Kontakt, eine Erkenntnis
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Mit einer Keynote von KI-Expertin Mina Saidze endet ein langer, anregender Tag. „Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, inklusive, faire, ethische Technologien zu entwickeln, die nicht zum Ausschluss von Menschen führen”, sagt sie. Zugeschaltet im Livestream ermutigt sie die Teilnehmer:innen, die Data Literacy in den Organisationen zu stärken. Nur so könne Bias vermieden und können KI-Anwendungen vorangetrieben werden, die die Leben der Menschen tatsächlich verbessern und nicht der Profitmaximierung und Kosteneinsparung dienen.
„Ich glaube, wir haben mit KI als Schwerpunkt einfach einen Nerv und einen sehr, sehr guten Zeitpunkt getroffen. Alle reden über dieses Thema. Einige sind schon ganz schön weit vorangeschritten und andere fangen gerade erst an. Ich glaube, diese Bandbreite konnten wir heute mit dem Programm und mit den einzelnen Sessions sehr gut abdecken und der Nachfrage begegnen“, resümiert Cathrin Heinrich, die den #dss2024 maßgeblich organisiert hat.
“Wenn ihr eine gute Idee und einen spannenden neuen Kontakt mitnehmt, dann hat sich der Tag schon gelohnt”, sagt Peter Kreutter vom WHU Center for Nonprofit Management and Social Impact beim Abschied auf der Bühne. Neugierig, offen, kritisch hat sich die Zivilgesellschaft auf dem Digital Social Summit gezeigt. In Zukunft werden ihre Stimmen in der KI-Debatte ganz sicher noch lauter und deutlicher zu vernehmen sein.
Fotos: Jörg Farys